top of page

Ist Berlin noch sexy?

  • Autorenbild: Jana Kaminski
    Jana Kaminski
  • 17. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Arm und verwahrlost: Steigende gewalttätige Übergriffe im öffentlichen Raum bringen das Sicherheitsgefühl in Berlin zum Wanken. Wer das ändern will, braucht Mitgefühl. 


von Jana Kaminski 


Ein Mann wird am helllichten Tag in der Berliner S-Bahn bedrängt. 25 Mitfahrende starren, wie erlernt, ins Leere, irgendwo zwischen Alexanderplatz und Jannowitzbrücke. Das Opfer konnte in diesem Falle flüchten. Der Täter macht später weiter, kein Einzelfall. Berlin verliert scheinbar die Kontrolle und ihre Bewohner das Gefühl von Sicherheit. Zwischen Freiheit und Verwahrlosung stellt sich schnell die Frage: Ist die Stadt noch sexy oder greift eher das Motto “arm, aber ängstlich"? 


Obdachlosigkeit in Berlin. Hier im Volkspark Friedrichshain. Foto: Jana Kaminski
Obdachlosigkeit in Berlin. Hier im Volkspark Friedrichshain. Foto: Jana Kaminski

Morgens, 8:30 Uhr im Volkspark Friedrichshain: Ältere Damen begrüßen den Tag mit Tai-Chi, zwei Jogger dehnen sich. Ein Mann meditiert, die Sonne im Gesicht. Wer hier auf den Trümmern der Vergangenheit steht, einem der höchsten Erhebungen der Stadt, genießt einen sorgenfreien Blick über Berlin: Herbstsonne, Fernsehturm, Charité, das Kraftwerk in Kreuzberg, am Horizont Marzahn. 


Keine zwei Kilometer entfernt von der Idylle wird John in der S-Bahn zwischen Alexanderplatz und Jannowitzbrücke zum Opfer – zitternd, bedrängt, ohne Hilfe. Belästigt von einem Mann, der den Tag am Ostbahnhof mit einer Flasche Wodka beginnt und ihn genauso beendet. Berlins Obdachlosenzahl hat sich in den letzten Jahren drastisch erhöht. 2024 waren laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg  55.656 Menschen wohnungslos, 47.260 davon in Unterkünften. Prognosen der Berliner Sozialverwaltung gehen bis 2029 von über 85.000 aus – ein Plus von rund 60 Prozent. 


Auch die Kriminalität verändert sich. 2024 registrierte die Polizei 539.049 Straftaten (+0,4 Prozent zum Vorjahr), darunter rund 50.600 Körperverletzungen. Besonders im öffentlichen Raum – Bahnhöfe, Parks, Straßen – nehmen Übergriffe spürbar zu. 


Eine Stadt zwischen Freiheitsmythos und Kontrollverlust


Berlins Image war nie sauber – und das war Teil des Charmes. „Arm, aber sexy“ stand für Lebenslust ohne Regeln. Eine Stadt, die jeden nahm, der sonst nicht reinpasste. Kreativ, anders, alternativ. Doch dieses Narrativ bröckelt. Die Freiheit, auf die wir so stolz waren, wirkt zunehmend verwahrlost. Wer am Spreeufer in Mitte joggt, tritt in menschliche Exkremente. Am Ostbahnhof oder rund um die Revaler Straße ist Gewalt Alltag. Es braucht noch nicht mal einen falschen Blick, um beleidigt oder bedroht zu werden. Denn die Wut und Aggression, der Kontrollverlust der Täter ist oft Auslöser. Das sind keine Einzelfälle, das ist ein Stadtbild. Ist Berlin, als Mekka für Akzeptanz, Subkultur und Weltoffenheit, nun Vergangenheit? Glänzt die Stadt nun mehr als je mit Überforderung, kurz vor dem Kollaps? Wir haben gelernt, wegzuschauen und nennen den Kontrollverlust so oft Toleranz. 

Wenn Übergriffe mitten am Tag passieren, wo wir uns sicher fühlen sollten, reagiert der Körper. Was das mit uns macht, weiss Dr. Sven Briken, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie: 


"Ein permanentes Bedrohungserleben kann unser Sicherheits- und Gemeinschafts- empfinden verändern. Wer im öffentlichen Raum häufig Gewalt, Übergriffen oder Verwahrlosung ausgesetzt ist, kann dadurch Stress und eine verzerrte Wahrnehmung erfahren, welche auf Dauer die Fähigkeit zu Mitgefühl, Fürsorge und Vertrauen in Mitmenschen und die Gesellschaft verändert.“


Was hilft – und was andere Städte besser machen


Andere europäische Städte zeigen, dass sozialer Zusammenhalt kein Zufall ist, sondern das Ergebnis von Struktur und Entschlossenheit. In Wien etwa hat man längst verstanden, dass Hilfe nur funktioniert, wenn sie mit Stabilität beginnt. Dort greift das Modell Housing First: Menschen, die auf der Straße leben, bekommen zuerst eine Wohnung – nicht als Belohnung, sondern als Basis. Erst danach folgt Unterstützung, Therapie und Integration. Dieses Vertrauen in Eigenständigkeit wirkt: Die große Mehrheit der Teilnehmenden bleibt dauerhaft in ihrem neuen Zuhause.


Kopenhagen geht einen anderen, aber ebenso konsequenten Weg. Dort arbeiten Polizei, Sozialarbeit und Gesundheitsdienste eng zusammen. Wer psychisch auffällig oder gefährlich wird, verschwindet nicht in Akten oder Wartelisten, sondern bekommt innerhalb von Stunden Hilfe.  Zudem herrscht ein hohes Maß an gesellschaftlichem Vertrauen.

Genau das fehlt Berlin: ein System, das hinschaut, bevor es zu spät ist – und reagiert, bevor Angst entsteht. Briken ergänzt: „Wir reagieren auf Angst oft mit Kontrolle oder Rückzug. Langfristige Sicherheit entsteht nicht aus Misstrauen, sondern aus Verbindung. Wenn wir beginnen, wieder hinzuschauen – mit Mitgefühl statt Urteil –, kann das viel verändern.“


Vom Wegsehen zum Hinsehen


Berlin bleibt ein Ort der Extreme: kreativ, frei, laut – und zunehmend erschöpft. Doch diese Stadt hat alles, was sie braucht, um wieder Halt zu finden. Sie muss sich nur erinnern, worauf ihre Stärke beruht – auf Gemeinschaft, auf Haltung, auf der Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Sicherheit entsteht nicht allein durch mehr Polizei, sondern durch ein Netz aus Aufmerksamkeit, Menschlichkeit und Konsequenz. Es braucht den Mut, hinzusehen – und die politischen Strukturen, um sofort handeln zu können, wenn jemand sichtbar fällt. 

Berlin darf wieder lernen, fürsorglich zu sein, ohne seine Freiheit zu verlieren.


 „Dauerstress und Ohnmacht führen dazu, dass wir uns eher abschotten, statt zu verbinden. Doch genau das brauchen wir: Sicherheit, die Mitgefühl ermöglicht. Forschung zeigt, dass Vertrauen und Fürsorge stabilisierender wirken als Kontrolle”, ergänzt Briken.


 Wenn wir uns wieder füreinander interessieren, wenn Nachbarschaft, Respekt und Anteilnahme wichtiger werden als Distanz – dann kann auch das alte Versprechen dieser Stadt wieder gelten: nicht nur arm, sondern großherzig. Nicht nur wild, sondern lebendig. Und vielleicht dann auch wieder: ein bisschen sexy.

 
 
 

Kommentare


bottom of page